Mit Vielfalt auf Vielfalt reagieren

«Selbstgewissheit statt Offenheit, geschlossene Ordnungen und gefestigte Rahmen sind auch in der Alltagspraxis der Volksschulen nicht mehr praktikabel. Gesellschaftlich, wirtschaftliche, kulturelle und soziale Komponente spielen mehr denn je eine Rolle.»

«Geschlossene Ordnungsentwürfe und verfestigte Rahmen sind Instrumente zur Ausgrenzung des Abweichende. (…) Sie verstellen die Einsicht, dass morgen als falsch gelten kann, was heute für richtig gehalten wird, sie verstellen die Offenheit dafür, dass alles anders kommen kann.»

Das schreibt der Mainzer Historiker Andreas Rödder in seiner 2015 erschienen «kurzen Geschichte der Gegenwart».

«Selbstgewissheit statt Offenheit, geschlossene Ordnungen und gefestigte Rahmen sind auch in der Alltagspraxis der Volksschulen nicht mehr praktikabel. Gesellschaftlich, wirtschaftliche, kulturelle und soziale Komponente spielen mehr denn je eine Rolle.»

Das leitet Ursula Ulrich, Leiterin des Zentrums Theaterpädagogik (ZTP) an der PH Luzern, für den schulischen Alltag ab. Sie richtet sich in ihrer Arbeit auch nach dem von Rödder vorgeschlagenen Kompass («Offenheit, nicht Selbstgewissheit») und plädiert für die Schaffung von Möglichkeitsräumen, von variablen Handlungs- und Denkräumen für den Umgang mit Vielfalt.

Unabdingbare Aufgabe der Schule

Ursula Ulrich kommt zum Schluss, dass Diversität und mit ihr die Integration/Inklusion im schulpraktischen Alltag einen festen Platz eingenommen hat. Die Theaterpädagogin ergänzt sogleich: «Die gesteigerten Anforderungen an die Institution Schule und die Herausforderung, den heterogenen Lerngruppen gerecht zu werden, mutieren zu einem Balanceakt zwischen Vergewisserung, das Richtige zu tun, und der Offenheit gegenüber der Kontingenz von Bildungssettings. Ein adäquates Reagieren auf die Vielfalt von Forderungen, Verpflichtungen und ethischen Vorstellung ist zur unabdingbaren Aufgabe der Schule geworden.»

Allerdings birgt ein in Kategorien verhandelter Umgang mit Diversität, Heterogenität und Vielfalt auch Gefahren. «Das ist zum einen nachvollziehbar, zum anderen aber auch problematisch», findet sie und begründet: «Mit dem Schaffen neuer Ordnungen wird unumgänglich sichtbar, dass einem ernst zu nehmenden Umgang mit Diversität nicht mit dem Erschaffen neuer Zuordnungen und Begrenzungen begegnet werden kann.»

Höchste Zeit also für eine Klärung in Bezug auf die Hauptbegriffe Heterogenität und Diversität. Ursula Ulrich orientiert sich dabei auch an Annedore Prengel von der Universität Potsdam, wenn sie vorschlägt, Heterogenität und Diversität in dem Sinne zu unterscheiden, als dass Heterogenität eher die Unterschiedlichkeit beschreiben wolle, während Diversität die Vielfalt einzufangen versuche.

Kategorisierung von Vielfalt?

Für Ursula Ulrich stellt sich vor diesem Hintergrund «die Aufgabe, nach adäquaten und praxistauglichen Möglichkeiten zu suchen, Diversität als vielfältiges und komplexes Gebilde zu erfassen, ohne kategorial betrachtet bereits neue Aus- oder Begrenzungen zu schaffen.» Diversität sei somit mehr als eine Zusammenfassung oder ein Ordnungsbegriff und ermögliche mehr als eine durch Heterogenitätsdimensionen (z.B. Geschlecht, Herkunft, Religion u.a.) festgelegte Überblickbarkeit und Kategorisierung von Vielfalt. Die Theatermacherin sieht darin die Chance, neu entstandene Ordnungen als Konstruktionen, Zuschreibungen, Festlegungen zu hinterfragen und produktiv zu machen.

Ein offener Umgang mit der Unbestimmbarkeit kommt gemäss Ursula Ulrich der Chancengleichheit sowie der Überzeugung nahe, dass einem jeden Menschen die Möglichkeit zustehe, als Subjekt (im Sinne eine selbst gestaltenden und von der Mitwelt gestalteten Individuums) anerkannt zu werden und im Kontext lebensweltlicher Bezüge seinen Lebensentwurf weiterentwickeln zu können. Dabei trete das Anerkennen der Differenz als auch das Bewahren von Vielfalt in den Vordergrund.

So sind für die Theaterpädagogin sowohl Heterogenität, Diversität als auch Subjektivität als relationale Konstrukt zu verstehen. Erst durch das In-Beziehung-Treten mit einem Gegenüber, dem Differenten, kann das noch Unbekannte im Eigenen erkannt und somit hinterfragt und ergänzt, reflektiert und möglicherweis als neue individuelle Vielfalt transferiert werden. «Vielleicht», schliesst Ursula Ulrich ihre eingangs geöffnete Klammer, «vielleicht liesse es sich sogar so weit denken, als dass es zur Anerkennung von Vielfalt die Auseinandersetzung, nicht aber die in sich geschlossene Kategorisierung von Heterogenitätsmerkmalen braucht. Oder in anderen Worten: Mit Vielfalt auf Vielfalt reagieren.


Kontakt

Leiterin Zentrum Theaterpädagogik
Ursula Ulrich
MA ZFH
Sentimatt 1
6003 Luzern
ursula.ulrich@phlu.ch
Portrait
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