Die Kantonsschule Beromünster auf dem Weg zum digitalen Wandel

Marco Stössel setzt als Rektor der Kantonsschule Beromünster nicht nur auf den Einsatz von ICT-Mitteln, sondern auch auf neue Lehr- und Lernformen. In diesem Interview erzählt er von seinen Erfahrungen mit der Digitalisierung und deren Auswirkungen auf die Unterrichtsgestaltung.

Interview: Marco von Ah; Leiter Kommunikation & Marketing, PH Luzern

Welche Assoziationen weckt unser Titel «die Kantonsschule Beromünster auf dem Weg zum digitalen Wandel» bei Ihnen?

MS: Ich denke spontan an unsere Erfahrung, dass der digitale Wandel mehr ist, als nur mit Laptops oder Tablets zu arbeiten. Die Geräte sind Hilfsmittel. Diese muss man zuerst verstehen, das gehört zum digitalen Wandel natürlich dazu. Mit dem Verstehen der Geräte ist es jedoch noch nicht gemacht. Durch den stärkeren Einbezug der Geräte beginnen sich Unterricht und Rolle der Lehrperson zu verändern.

Wie zeigt sich dieser stärkere Einbezug von ICT-Mitteln an Ihrer Schule?

MS: Im Gegensatz zu früher benutzen wir die Geräte nicht nur vorwiegend zum Präsentieren, sondern kollaborativ unter Einbezug entsprechender Softwares wie zum Beispiel der Plattform «Office 365» mit OneNote, Teams oder SharePoint. Der Einsatz von ICT-Mitteln sollte einen Mehrwert in Form von vernetztem Wissen bieten. Mein persönlicher Wunsch ist, dass man die Geräte als Instrumente sieht, die zu einer Selbstverständlichkeit werden wie früher die Wandtafel und der Hellraumprojektor.

Löste dieser Entwicklungsprozess Widerstand bei den Mitarbeitenden aus?

MS: Ja und nein. Die Akzeptanz ist unterschiedlich gross, was in meinen Augen normal ist. An unserer Schule gibt es keine Regelung, wann und wo die Geräte eingesetzt werden sollen. Wir haben eine Lehrfreiheit. Von Elternseite kann die Rückmeldung kommen: «Meine Tochter braucht das Gerät viel häufiger als mein Sohn, der zwei Klassen weiter ist». Das ist weder auf die eine noch auf die andere Seite ein Hinweis auf ein Qualitätsdefizit. Entscheidend ist, dass die Geräte sinnvoll eingesetzt werden.

Mir ist es wichtig, die Lehrpersonen zu motivieren, sich mit den neuen Möglichkeiten zu befassen und zu beobachten, wie es andere machen. Ich denke, alte Muster lassen sich am einfachsten verlassen, wenn man etwas sieht, von dem man begeistert ist.

Inwiefern hat sich der Unterricht an Ihrer Schule durch den digitalen Wandel verändert?

MS: Die mit der Digitalisierung einhergehenden Veränderungen waren der Ausgangspunkt eines umfangreichen Schulentwicklungsprozesses, der noch nicht abgeschlossen ist. Wir stellten fest, dass die Schüler*innen durch den häufigen Einsatz von Tablets und Laptops in der Primarschule heute mit anderen Voraussetzungen und Erwartungen ans Gymnasium kommen. Der Lehrperson kommt nicht mehr die Rolle der allwissenden dozierenden Person zu, die vorne steht. Das Wissen wird durch den Einsatz der Geräte quasi für jede und jeden erreichbar. Die durch die Bedingungen der Digitalität veränderte Ausgangslage war für uns der Startpunkt für einen anderen Umgang miteinander im Unterricht. Wir überprüften, ob wir noch auf dem richtigen Weg sind mit unserer Bildung, und begannen, Anpassungen vorzunehmen.

Gab es weitere Gründe, die Lehr- und Lernformen zu hinterfragen?

Neben der Digitalisierung spielt sicherlich auch die Individualisierung eine grosse Rolle. Heute ist es wichtig, individuellen Arbeitstempi und Lernwegen Raum zu geben und Fragen des Nachteilsausgleichs zu beachten. Auch Erwartungen von aussen müssen berücksichtigt werden. Ob Wirtschaft, abnehmende Institute wie Hochschulen oder Universitäten: Überfachliche Kompetenzen, Selbstorganisation oder Selbstfürsorge haben dort einen ganz anderen Stellenwert als noch vor 30, 40 Jahren. Und dann ist da natürlich noch der Faktor Kosten – respektive Sparen.

Es ist Ihnen gelungen, einen umfangreichen Schulentwicklungsprozess zu initiieren. Wie sind Sie konkret vorgegangen?

MS: Die Lehrpersonen in meinem Kollegium sind unterschiedlich unterwegs – vielfach auch kreativ. Es wurde bereits Verschiedenes ausprobiert, ohne dass von der Schulleitung ein Konzept vorgelegt wurde. Ich persönlich war von den Schulstrukturen Schwedens inspiriert. In Südschweden wird insbesondere in privaten Schulen komplett anders und viel offener unterrichtet als bei uns. Es gibt viel mehr selbstgesteuertes Lernen und Unterrichten. Auch die entsprechenden Gebäude sind vorhanden. In einem Atrium befindet sich das Zentrum des Lernens. Seitlich gibt es Räumlichkeiten, in denen man sich mit dem Coach oder mit der Betreuerin treffen kann.

Und Sie waren überzeugt, dass sich dieses Modell mit dem hiesigen Schulsystem kombinieren lässt?

MS: Ja, und ich wurde während einer schulinternen Weiterbildung darin bestärkt. Diese hatte den Titel «Über den Zaun fressen». Wir gingen mit dem ganzen Kollegium in Primarschulen und machten uns ein Bild davon, was und wie unterrichtet wurde. Selbstverständlich schauten wir auch auf die andere Seite des Zauns. Der Frage nachgehend, was Universitäten und Hochschulen von uns erwarten, luden wir Professor*innen und Dozent*innen ein, die uns erläuterten, was ihnen wichtig ist und was Studierende mitbringen sollten.

Was stellten Sie bei den Primarschulbesuchen fest?

MS: Dass das selbstorientierte Lernen bereits sehr verbreitet ist und gut umgesetzt wird. Die besuchten Schülerinnen und Schüler haben einen Wochenplan mit Zielen. Sie haben festgelegte Zeiten, in denen sie selbständig an ihren Pendenzen oder Aufgaben arbeiten. Ich war beeindruckt. Dies hat mich in der Idee des schwedischen Schulmodels gestärkt.

Gab es keine Widerstände im Kollegium?

MS: Doch, natürlich, sehr grosse sogar. Ich habe mich damals folglich fast ein wenig zurückgezogen mit meinen Ideen. Als neuer Rektor läuft man Gefahr, das Bild abzugeben von einem, der die Welt auf den Kopf stellen und das Rad neu erfinden will. Doch dann kam Corona und wir waren gezwungen, anders zu unterrichten. Wir mussten uns Gedanken darüber machen, wie wir die Lernziele erreichen konnten, ohne auf die bewährten Konzepte zugreifen zu können. In diesem Prozess unterstützte uns eine Delegation unserer Schülerorganisation, die sehr aktiv ist. Ich investierte viel dahingehend, dass wir unseren Gedanken trotz bestehender Vorgaben freien Lauf liessen. Die Inputs von Georges T. Roos, Roger Spindler und Frank Thissen waren hierbei sehr wertvoll. Zudem hatten wir eine Delegation des Gymnasiums Neue Stadtschulen St. Gallen und Zürich eingeladen. Sie bieten einen Maturitätslehrgang nach eigenem Modell an, in dem am Schluss die Eidgenössische Maturität absolviert werden kann.

Ein Modell, das offenbar umstritten ist.

MS: Auf der einen Seite war die Auseinandersetzung mit dem Modell der Neuen Stadtschulen sehr spannend für uns und auf der anderen stimmte es uns sehr nachdenklich. Unsere Sportlehrpersonen kamen zu mir und sagten, dass es dort keinen Sportunterricht gäbe. Dies ist richtig, auch miteinander musiziert wird nie. Im Kollegium hat dies eine gewisse Empörung ausgelöst, welche gute Energien für unsere Prozessarbeit freisetzte. Sie haben mein Team motiviert zu beweisen: Das können wir besser. Am nächsten Tag gab es sehr viele gute Ideen, zum Teil individueller Natur, zum Teil struktureller und schulorganisatorischer Art. 

Zum Beispiel?

MS: Es entstanden Ideen zum Verändern von Stundenplan und Lehrplan. Auch das Führen von Klassen wurde in Frage gestellt. Bei den entwickelten Alternativen stehen persönliche Coachings im Vordergrund. Konkret könnte jeder Lehrperson ihrem Pensum entsprechend eine Anzahl Schüler*innen zugeteilt werden, die sie mehr oder weniger bis zur Matura begleitet. Dies wären aber die ganz grossen Brote. Wir haben die Ideen festgehalten und beschlossen, dass wir erstmal kleine Brötchen backen. Man kann sich auch in kleinen Schritten grossen Zielen annähern.

Wenn Sie jetzt einen Zwischenstand schildern müssten, wo liegt die Kantonsschule Beromünster im aktuellen Prozess?

MS: Ich denke, wir liegen kurz vor der Mitte. Wir sind definitiv noch nicht bei den grossen Broten angelangt. Aktuell sammeln wir Erfahrungen und evaluieren diese. Beispielsweise haben nach einer internen Fortbildung viele Lehrpersonen angefangen, ihr Unterrichtszimmer anders zu bestuhlen. Es entstanden mehr Tischinseln. Die Tatsache, dass bei Tischinseln über die Ecken gut abgeschrieben werden kann, führte uns zu der Auseinandersetzung mit folgender Frage: Ist diese Raumgestaltung zielführend oder müssen Prüfungen neu so sein, dass nicht abgeschrieben werden kann? Wie Sie sehen, führt das eine zum anderen. Aktuell wird von einzelnen daher auch die Einführung von Prüfungen mit Open Book diskutiert, was «Open-Internet» bedeuten würde. Zudem können sich einige unserer Lehrpersonen eine Umstellung auf ein System mit Theoriestunden am Morgen und selbstgesteuertem Lernen mit Anleitung am Nachmittag vorstellen.

Und das System, das sich auf alle Fächer gleich gut anwenden lässt, gibt es wohl gar nicht.

MS: In der Tat zeigten mir die Reaktionen des Kollegiums, dass man das hier nur rudimentär geschilderte Konzept nicht bei jedem Fach gleichermassen umsetzen kann. In einigen Fächern müssen Jugendliche beispielsweise stärker angeleitet werden als in Fächern, in denen mehr Unterrichtsinhalte individuell erarbeitet werden können. Wichtig ist jedoch auch der Überblick über alle Fächer. Wenn eine Schülerin beispielsweise in der Mathematik das Thema nach 15 Minuten komplett verstanden, im Französisch jedoch Nachholbedarf hat, ist es schade, wenn sie in der Mathematiklektion Zeit verschwendet, die sie dringend ins Französisch investieren sollte. Da lohnt es sich, etwas intensiver über bestehende und andere Modelle nachzudenken. Wichtig ist nun, dass wir unsere ersten Erfahrungen bündeln und hinsichtlich unserer grösseren Brote ein Konzept erarbeiten.

Sehen Sie folglich auch Anpassungsbedarf bezüglich Weiterbildung von Lehrpersonen?

MS: Ja, ich wünsche mir eine Weiterbildung, die die Lehrpersonen bei der Entwicklung eines neuen Rollenverständnisses unterstützt. Wenn eine Lehrperson den Rollenwechsel macht, gibt sie möglicherweise viel von dem ab, was sie geliebt hat. Das kann auch schmerzhaft sein. Der Umgang mit Signalen aus der Klasse, dass die Schüler*innen das weitergegebene Wissen bereits, und teilweise sogar noch ausführlicher, aus dem Internet erhalten haben, ist nicht so einfach. Es ist wichtig, dass die Lehrpersonen im Rollenwechsel begleitet werden, damit sie erfahren, dass sie nicht weniger wert sind, sondern bloss eine andere Rolle einnehmen. Ebenso essenziell finde ich Weiterbildungen zum Coachen. Coachen ist nicht gleich Unterrichten. Coachen muss gelernt sein. Und natürlich wünsche ich mir auch eine Weiterbildung dahingehend, dass Lehrpersonen digitale Geräte als Hilfsmittel erkennen und sie bewusst anwenden.


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